Anja Utler / Lene Albrecht / Lin Hierse
38. Freiburger Literaturgespräch: Drei Lesungen mit Gespräch
Anja Utler: Es beginnt
Moderation: Thomas Geiger
„Es beginnt“ – so hebt jedes der 209 Kurzgedichte in Anja Utlers gleichnamigem Gedichtband an (Edition Korrespondenzen, 2023). Immer wieder beginnt der Trauerrefrain beim Tagesanbruch, zeigt, wie das Geschehene weiterwirkt, sich in alle Neuanfänge einschreibt. In langsamen Schritten nähert sich der Zyklus dem Auslöser der Trauer: Russlands Angriff auf die Ukraine. „Es beginnt der Tag / zu allen Seiten. Wand und / Licht. Dahinter fliegt / der Kosmos auseinander“.
Utlers „tastende Sprachkonzentrate“ verbinden sich zu einer „Litanei von größter Intensität“, würdigt die Jury des Peter-Huchel-Preises 2024 diese intellektuell brillante und poetisch umsichtige Suche nach einem Raum jenseits der Sprachlosigkeit, der Willkür und der Wut. In ihrer Folge lassen die an Haiku erinnernden Vierzeiler immer neue Verbindungen aufscheinen, variieren das Tempo, verschieben Bedeutungen und entwickeln durch die Kraft der Wiederholung eine soghafte Wirkung, die besonders eindrücklich wird, wenn Anja Utler ihre Gedichte liest. Ihrer poetischen Resonanz auf Leid und Zerstörungswillen stellt sie einen analytischen Essay entgegen, ein Plädoyer für Erschütterbarkeit, in der sie einen Schlüssel zur Widerständigkeit findet.
Lene Albrecht: Weiße Flecken
Moderation: Katharina Knüppel
Ellen reist nach Togo, im Gepäck ein Aufnahmegerät und den Auftrag, Flucht- und Migrationsursachen zu erforschen. Vor Ort trifft sie eine Schneiderin, die ihrer Abschiebung aus Deutschland zuvorkam, einen jungen Mann, der mit seinem Dienst im Waisenhaus hadert, und den Bibliothekar, der ihr Augenmerk auf die Europäer*innen lenkt, die wie Gespenster das Land bevölkern.
Nach und nach wird Ellen bewusst, dass auch ihre eigene Biografie im engen Geflecht afrikanisch-deutscher Geschichte verwoben ist: Warum ging ein Onkel nach Nigeria und wurde dort vermögend? Warum brachte ihr Ur-Urgroßvater um 1900 nur eines seiner drei Kinder aus Panama nach Deutschland? Von ihrer Urgroßmutter Benedetta existieren nur verschwommene Fotos und verstreute Erinnerungsfetzen, Gerüchte, Mutmaßungen. Auf der Suche nach ihrer Geschichte begegnet Ellen der eigenen Unsicherheit, der eigenen Verantwortung. Mit „Weiße Flecken“ (S. Fischer, 2024) gelingt Lene Albrecht ein klug komponierter Roman, eine literarische Recherche von höchster Aktualität.
Lin Hierse: Das Verschwinden der Welt
Moderation: Annette Pehnt
Das große Haus am Fluss verspricht Marta einen Neuanfang. Sie verliebt sich in das alte Gebäude, das Zeuge zahlloser Leben, Träume und Verluste geworden ist. Nur wenige sind noch hier: neben Marta nur Herr Yi, die Dichterin und Lu. Als Marta kurz nach ihrem Einzug erfährt, dass das Haus abgerissen werden soll, will sie kämpfen, aber findet in den anderen keine Verbündeten. Also stemmt sie sich allein gegen das Verschwinden der Geschichten, Erinnerungen und einer ganzen Welt.
Lin Hierse hat Asienwissenschaften und Humangeographie studiert und arbeitet als Redakteurin für die taz, in der ihre Kolumne „Poetical Correctness“ erschien. Nach ihrem hochgelobten Debüt „Wovon wir träumen“ erzählt sie auch in ihrem neuen Roman „Das Verschwinden der Welt“ (Piper, 2024) mit schwebender Leichtigkeit von Herkunft und Identität, von prägenden Beziehungen und der Frage, was von einem Menschen bleibt, nachdem er verschwunden ist.
Fotos: v.l.n.r. © Aleksandra Pawloff, Jacintha Nolte, Amelie Kahn-Ackermann
Förderer: Kulturamt der Stadt Freiburg, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau, Guzzoni-Federer-Stiftung, freundlich unterstützt von der Buchhandlung jos fritz und dem Park Hotel Post
Kooperationspartner: Konfuzius-Institut
Datum: 9.11.2024, 10–13 Uhr
Ort: Literaturhaus Freiburg, Bertoldstraße 17
Eintritt: 11/7 Euro